Essay von Manfred Klimek

Wien war einst in Europa und der Welt eine Metropole des Regierens. Doch erst als Österreich schrumpfte, erlangte die Stadt an der Donau ihre kulturelle Bedeutung von ­heute. 30 Jahre nach Fall des Eisernen Vorhangs etabliert sich Wien als die multi­nationalste und lebenswerteste Großstadt Europas.

 

Uralte Stadt und Kaisersitz

Bevor man dieser Tage eine Geschichte über Wien beginnt, muss man die aktuelle Situation schildern, in der sich Wien befindet und die eventuell noch nicht ausgestanden ist, wenn dieser Artikel erscheint.

Ganz Wien befindet sich aufgrund der Covid-19-Infektion unter einem Schirm behördlich angeordneter Aufenthaltsbeschränkungen. Soll heißen: Wer draußen nichts verloren hat, soll auch nicht nach draußen gehen. Nachdem sich eine Mehrheit der Bevölkerung auch an warmen Frühlingstagen an die Auflagen hält, ist das erste Mal in der Geschichte Wiens eine oftmals menschenleere Stadt zu besichtigen – Amateurfilmer halten mit ihren Drohnen die Schönheit dieser unwirklichen Szenerie fest.

Schon der Kabarettist Georg Kreisler hielt in den Sechzigerjahren des letzen Jahrhunderts sarkastisch fest: „Wie schön wäre Wien ohne die Wiener“. Sehr schön, wie man jetzt sehen kann.

Wien: Das ist die Donaumetropole. Uralte Stadt, einst Kaisersitz eines Weltreichs, in dem die Sonne nie unterging. Diese Epoche endete nach Abspaltung des spanischen Zweigs der Habsburger. Von nun an schrumpfte dieses weltumspannende Österreich, in dem nur wenige Menschen überhaupt wussten, wo Wien genau liegt.
Wien liegt tatsächlich in der Mitte Europas – erst wieder bemerkt, nachdem 1990 die Mauer fiel und 2004 die Europäische Union die Osterweiterung beging. Österreich übernahm über ­Jahrhunderte die Aufgabe, so etwas wie eine Europäische Union zu kreieren. Das ging natürlich nur mit Unterdrückung und oft leider damals zeit­gemäßer Härte.


Der Praterstern um 1910. ® Roger Viollet

Vom Verwalten zum Reformieren

Napoleon machte dem Konstrukt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation ein Ende; die Insignien dieser Jahrhunderte währenden Macht liegen in Wien und können hier besichtigt werden. Vergangenheit und das Vergangene überhöht zu pflegen: Das war nach Ende der Donaumonarchie 1918 ein in Wien verfestigter Gesellschaftszustand. Bis der Eiserne Vorhang fiel.

Wien mochte zwar als Hauptstadt eines riesigen Kaiserreichs (mehr Konstrukt als Reich) eine potente Rolle unter Europas damaligen Städten gespielt haben, doch gegen London, Madrid oder Paris war es Provinz. Diese Städte hatten schon im Spätmittelalter weit mehr Einwohner und waren unruhige Zentren des Denkens und der Kultur. In London entstand mit Shakespeare die Theaterkultur, in Paris tobte mit Voltaire die Philosophie, Madrid begüterte sich wie Lissabon am Kolonialismus und in den Städten Oberitaliens setzten sich Wissenschaft und Forschung gegen die Scheiterhaufen der ­Kirche durch.

Und in Wien dagegen? In Wien fand nichts Großes statt. Erst zu Beginn der Neuzeit besuchte ein gewisser Mozart ein paar Tage die Salons des Wiener Adels, um aufzugeigen. Und ein Bonner Bürger namens Beethoven schrieb hier die heutige Europahymne, bevor er in der Wiener Fremde verstarb – das übrigens auch nicht in Wien, sondern in seiner Peripherie.

Die einen Historiker sehen das damalige Wien in der Borniertheit der Habsburger und ihrer Hofschranzen gefangen, andere Historiker wiederum verweisen auf die ständige Überdehnung dieses Reichskonstrukts, die zur Folge hatte, dass man sich eher dem Verwalten als dem Gestalten widmete. Auf jeden Fall: Wien glänzte nicht, als Paris, London, Madrid und sogar das junge Berlin glänzten. Wien stand für eine Mitte ohne Profil, eine Ansammlung von Hof und Häusern, die keine besondere Ausstrahlung hatte. Nach Wien musste man nicht, nach Wien wollte man nicht.

Das änderte sich mit Maria Theresia, die das Reich weitreichenden Reformen unterzog und dabei auch die erste Person aus dem Geschlecht der Habsburger war, die den Verlust eines Kerngebiets, den Verlust von Schlesien an Preußen, hinnehmen musste. Doch mit diesem Beginn eines Schrumpfprozesses, an dessen Ende das Österreich von 1918 stand, dessen Grenzen auch heute noch Gültigkeit besitzen; an diesem Beginn des Schrumpfprozesses Österreichs, begann Wien zu leben, aufzublühen und zu einer der wichtigsten Städte der damaligen Welt zu werden.

Der Kongress tanzt

Die Einleitung dafür war der „Wiener Kongress“, wo man über viele Monate die Neuordnung Europas nach Napoleon aushandelte. In dieser losen Reihe großer diplomatischer Treffen, die letztendlich nur zum kurzen Wiederaufstieg überkommener feudaler Systeme dienten, kam ein Satz auf, ein „Meme“, wie wir heute sagen würden, der sich in ganz Europa zum geflügelten Wort aufschwang, der Satz: „Der Kongress tanzt“. Tatsächlich hatten die Wiener Diplomatie und vor allem der Hof bei dieser ersten multinationalen Konferenz aller Zeiten die Devise von Charme, Vergnügen und dem gemütlichen Umgang miteinander ausgegeben.

Das war ein geniales Branding, das sich über Generationen bis heute hält. In Wien, so ist das seither präsent, geht es gemütlich zu, wird dauernd gegessen, getrunken und Walzer getanzt. In Wien: da ist das Leben voll Brot und Wein und die Stimmung leicht. Noch Jahre davor hielt man Wien in ganz Europa für eine graue, unwirtliche, erzkatholische Stadt ohne lebenswerte Attribute. Das war nach dem Wiener Kongress vorbei.

Der Wiener Kongress ist auch dafür verantwortlich, dass es heute in Wien noch Fiaker gibt. Die Mietdroschken – Vorläufer der Taxis und um 1820 nur in Wien in dieser Anzahl bekannt – waren eine Mobili­tätserweiterung für bürgerliche Kreise mit Geld, die nach Ende des Kongresses auch nach London und Paris exportiert wurde, wo man diese Dienstleistung gar nicht oder nur sehr begrenzt kannte. Wien war also ein Vorreiter des öffentlichen Verkehrs (ist es übrigens ­heute noch) und die immer noch in nicht geringer Zahl vorhandenen Fiaker beweisen, wie sehr Wien alte Errungenschaften zu pflegen vermag. Für viele Wiener sind sie aber auch Zeichen einer Gesellschaft, die sich eher schwer von gestrigem Glanz lossagen kann.

Das ist auch schwer, denn Wien ist eine tatsächlich immens schöne Stadt. Sie verfügt auch über das größte städtische Weinbaugebiet der Welt; im Westen und Nordwesten wird Wien zudem vom riesigen stadtnahen Waldgebiet, dem Wienerwald, begrenzt. Wien ist auch die größte deutschsprachige Stadt mit erhaltener Altbaustruktur. Das liegt aber nur daran, dass die Bomber der Alliierten die Stadt im ­Zweiten Weltkrieg nicht als primäres Zielgebiet ausmachten. Man wusste nicht, ob dieses komische Österreich, der damals erst 25 Jahre alte Nachfolgestaat der Monarchie, Opfer oder Täter war. So ließ man es beim Opfer bewenden, beim Status des von Hitler besetzten Landes, was nach dem Krieg zur historisch unrichtigen, aber von der Politik gepflegte Opferrolle beitrug.

Nach dem Wiener Kongress folgten unruhige Zeiten. Besonders in Wien und Budapest wurde der demokratische Aufstand des Bürgertums 1848 abschreckend brutal niedergeschlagen. Dazu kam, dass mit Preußen und dessen Reichskanzler Bismarck ein Feind von Österreich und Wien heranwuchs. Als die Zeit der Nationalbewegungen anbrach, die im damaligen Österreich die Minen der Zerstörung legten, da blieb dem politisch stets dilettierenden Kaiser Franz Joseph nur die Teilung der Monarchie – die gerade auch die oberitalienischen Gebiete an das neue Italien verlor – in einen österreichischen und einen ungarischen Teil über – die Doppelmonarchie war geboren.
Diese stand gleich immens unter Druck, als Preußen 1866 mit Österreich Krieg um die Vorherrschaft im Deutschen Bund führte. Preußens Truppen gewannen dank moderner Waffentechnik und jagten die Österreicher bis an die Stadtgrenze Wiens zurück. Nach beiden Türkenbelagerungen das zweite Mal in der Geschichte der Habsburg-
Monarchie, dass Kaiser und Hofstaat aus Wien flüchten mussten.

Die Blüte einer Stadt

Danach jedoch begann der lange Frieden, der – außer am Balkan – bis 1914 andauern sollte. Und in diesem langen Frieden wurde Wien neben Paris und Berlin die wichtigste Stadt Kontinental­europas. Das hatte zwei Gründe. Zuerst war da die noch sehr neue Techno­logie der Eisenbahn, auf deren Schienen zum ersten Mal auf neuen Strecken auch Spitzengeschwindigkeiten von mehr als 100 km/h gefahren werden konnten. Und dann wurde Wien auch komplett umgebaut – so wie sonst nur Paris und Barcelona. Die Stadtmauer wurde abgerissen, die Dörfer davor eingemeindet und anstelle der Stadtmauer die Ringstrasse gebaut, welche gleich mit repräsentativen Prachtbauten ausgestattet wurde: Universität, Rathaus, Burgtheater, Staatsoper und Parlament, kulturelle und politische Zentren, die in Fußweite der Kaiserresidenz Hofburg liegen. Wien bekam damals die kompakteste Innenstadt und auch das kompakteste Stadtgefüge der Welt. Davon profitiert Wien noch heute, denn die Wege sind für alle kurz, obwohl bald zwei Millionen Menschen hier leben.

Die Eisenbahn und ihr rasanter Ausbau waren es, die Wien und die an sich siechende Monarchie noch einmal zusammenbrachten. Jeder Punkt des Kaiserreichs war von 1880 an mit einem Nachtzug gut zu erreichen. Und so brachen Künstler, Literaten, Philosophen und Forscher auf, packten ihr Zeug zusammen, um in Wien zu leben, das nun auch eine schnelle Zugverbindung nach Berlin hatte. Das kulturelle und intellektuelle Bürgertum der Monarchie wuchs zusammen und für für viele wurden Prag, Budapest, Krakau und Zagreb zu klein – sie zogen nach Wien.

Das führte zu einer gigantischen Blüte der Stadt. Die „Wiener Werkstätten“ kreierten ein neue, teils sehr nüchterne Möbelkultur, Maler wie der ungeheuer obszöne Egon Schiele, der neu-figurale Gustav Klimt oder der ausufernd kreative Oskar Kokoschka bestimmten nun zur Gänze die kulturelle Avantgarde ganz Europas. Architekten wie Adolf Loos wurden mit ihrer Zerstörung aller Ornamente und der Sinngebung aller Räume zum Vorbild der später im deutschen ­Dessau entstehenden Bauhaus-Schule. Der „Wiener Salon“, wo sich die mehr oder weniger Geistreichen bei monetär gutgestellten ­Damen zum Weintrinken trafen, geriet in Berlin schnell zur ­Kopie, wo zum Wein auch das Kokain dazukam. Und apropos Kokain:

Es war der kokainsüchtige Arzt Sigmund Freud, der im damaligen Wien die Psychoanalyse ins Leben ruf.
Zeitzeugen beschreiben eine seltsame Zeit. Denn während der Kaiser immer noch mehr oder minder autoritär regierte, verloren Zensur und Geheimpolizei zunehmend die Kontrolle der stupenden Avantgarde. Es war ein „Anything goes“, das von den Sittenwächtern Kirche und Adel nicht wahrgenommen wurde oder nicht wahr­genommen werden wollte. Der Erste Weltkrieg beendete diese Blütezeit abrupt.

Das Wien der Zwischenkriegszeit war in Europa kulturell wieder so bedeutungslos wie es das Wien des späten Mittelalters war. Doch zeichnete sich ein kleines, überlebensfähiges Land ab, das über eine viel zu große Hauptstadt verfügte, einen „Wasserkopf“ wie das verbliebene Österreich Wien gerne nannte.


Wien 1945, ® Hermine Grögl

75 Jahre Frieden

Nach der Hitlerzeit und dem Ende des Zweiten Weltkriegs vor 75 Jahren, wurde Wien wie Berlin in vier Besatzungszonen aufgeteilt. Der Staatsvertrag und die Neutralität von 1955 einte die Stadt wieder, die mit der Flüchtlingswelle des Ungarnaufstand 1956 eine erste Probe bekam, was es heißt, am Rande des Eisernen Vorhangs zu leben. Wien wie auch Österreich war lange Jahre orientierungs- ja sogar heimatlos, die Einzigen, die hier wirklich eine Heimat fanden, waren die Spione der Großmächte USA, UDSSR und England. Das Land mit seiner weit, weit im Osten liegenden Hauptstadt suchte seinen Sonderweg, den Wien fand, als sich die Stadtpolitik an den Wiener Kongress erinnerte: Wien wurde zum Zentrum der internationalen Diplomatie und einer von drei UNO-Sitzen.
Kulturell aber war Wien wieder grau und öde.

In Wien fand die 1968er-Bewegung gleich gar nicht statt und es waren nur die so genannten Aktionisten, die Mitte der 1960er Jahre mit ihren schockierenden, grenzüberschreitenden und – typisch für Wien – wieder obszönen Werken für einiges Aufsehen in einem kleinen Kreis der internationalen Kunstwelt sorgten – heute sind die Bilder und Werke immens gesucht und auch immens teuer.


Arena Bestzung 1976 ® Votava / Imagno

Erst Ende der 1970er Jahre formierte sich in Wien eine Jugend­bewegung die von der seit 1918 sozialdemokratisch regierten Stadt autonome kulturelle Räume forderte. Das uferte bei der sogenannten „Arena-Bewegung“ und der nachfolgenden „Burggarten-Szene“ in die ersten Straßenschlachten aus, die Wien so anarchistisch noch nie erlebte. Es mag seltsam klingen, aber die letztlich moderat verlaufenden Kämpfe der Jugendlichen gegen das Establishment haben der Stadt den Kopf freigepustet: eine Musik- und Zeitschriftenszene entstand, die in der ganzen Welt bemerkt wurde. Auf einmal war Wien wieder hip. Wirtschaftlich hip wurde Wien, als der Eiserne Vorhang fiel.


Falco Wiener Festwochen
© FIRST LOOK

Aufschwung im Osten

Die Wirtschaftskraft Österreichs wurde nun zu einem nicht geringen Teil in den Aufbau der ehemaligen Kronländer gesteckt. Keine andere Stadt Westeuropas (eine geographische Zuordnung, die immer noch Gültigkeit hat) hat vom Aufschwung des Osten so profitiert wie Wien, das an einigen Plätzen, etwa in der Innenstadt, ein schon übertrieben reiches Bild von sich zeichnet.

Und Wien ist europaweite Hauptstadt der Migration. Rund 33 Prozent der Wiener Bevölkerung sind Migranten, überwiegend mit anderer Staatsbürgerschaft. Sie kommen meistens aus den ehemaligen Gebieten der Doppelmonarchie und – nicht gering – auch aus Deutschland. Dazu kommt noch, dass die Mehrheit der in Wien
Lebenden einen migrantischen Hintergrund von nur einer oder zwei Generationen hat. Das bedeutet, dass die Mehrzahl der Wiener „neue Wiener“ sind. Jeden Tag pendeln tausende Arbeitnehmer aus den Grenzgebieten der nahen Länder Tschechien, Slowakei und Ungarn ein, denn Wien ist ein attraktiver Arbeitsstandort mit Flair. Und man muss nicht erneut erwähnen, dass Wien seit Jahren schon gemeinsam mit Zürich als bestverwaltete Stadt Europas gilt und von vielen Rating-Agenturen auch oft als lebenswerteste Stadt der Welt eingestuft wird. Wien: das ist Gelassenheit auf hohem Niveau.

Die Wiener: Das sind Menschen, die das Multikulturelle in ihrer DNA tragen, weil die Stadt seit fast 150 Jahren von der Zuwanderung geprägt ist. Ein Erfolgsgeschichte, der die stets skeptischen Wiener erst jetzt Glauben schenken.